Der «Fremde», der Grenchen ganz gut kennt

Man spürt sie auch in diesem Haus: die entspannende Wirkung nach zwei schwierigen und anspruchsvollen Jahren. Nicht nur für die Klienten, ganz besonders auch für die Betreuenden und die Leitung der Institution «rodania», der Stiftung für Schwerbehinderte. Dazu gehört der neue Gesamtleiter, Urs Trösch, dem im Januar 2021 kein einfacher Einstieg in seine neue Funktion vergönnt war. Er hat die letzten 17 Monate trotz allem positiv erlebt. Wir sind dem «Neuen», der den langjährigen Gesamtleiter Patrick Marti abgelöst hat, auf die Spur gegangen.

Hoch über Grenchens Dächern: Urs Trösch, der neue Gesamtleiter von «rodania», auf der Terrasse der Attikawohnung im neuen Wohnhaus «Delphin». Bild: Joseph Weibel
Hoch über Grenchens Dächern: Urs Trösch, der neue Gesamtleiter von «rodania», auf der Terrasse der Attikawohnung im neuen Wohnhaus «Delphin». Bild: Joseph Weibel

«Ich hätte es mir anders gewünscht, war es doch mein letztes Jahr als Gesamtleiter», schreibt Patrick Marti im Editorial im Jahresbericht 2020. Fast zwei Jahrzehnte hatte Marti der Stiftung seinen Stempel aufgedrückt und sie zu einer gedeihenden und gut funktionierenden Institution gemacht. Er suchte eine neue Herausforderung und fand sie in seinem Wohnort Zuchwil als Gemeindepräsident. Auch Urs Trösch aus Langendorf strebte nach neuen Ufern und fand sie als Gesamtleiter der «rodania». Wenn das keine gute Nachfolgelösung ist!

«Delphin»: ein schönes Haus

Der neue Chef ist mit dem E-Bike unterwegs. Er macht mit beim «Bike to work», der jährlich stattfindenden Mitmach-­Aktion zur Fahrrad- und Gesundheitsförderung in Unternehmen. Als Auswärtiger ist das eine besondere Herausforderung. Wir rechnen: Der Weg von Langendorf nach Grenchen misst geschätzte zwölf Kilometer. Urs Trösch schaut kurz zum Himmel und lacht: «Hoffentlich komme ich heute trocken nach Hause.» Warum er das erzählt? Er will damit sagen, dass wir zu Fuss zum neuen Wohnhaus «Delphin» gehen müssen, sofern ich da noch einen Blick hineinwerfen möchte. Natürlich, gerne! Noch sind die Handwerker daran, dem Neubau den letzten Schliff zu geben. Der Einzug der neuen Bewohner ist bald, sehr bald. Das sind vierzehn Bewohnerinnen und Bewohner, oder sagen wir einfach: vierzehn «Delphine». Die komplett ausgestatteten Wohnungen ermöglichen den darin lebenden Bewohnern ein grosses Mass an Selbstständigkeit. Zu den 2½-, 3½- und 4½-Zimmer-Wohnungen kommen ein grosser Gemeinschaftsraum, Büro, Sitzungs- und Besprechungsräume. «Und zuoberst», sagt Urs Trösch, «haben wir zwei Attikawohnungen, die wir möglicherweise fremdvermieten.» Und das verrät der Mann aus Langendorf dazu: «Wenn ich mir diese Wohnung so anschaue, dazu die trotz Bahnhofsnähe ruhige Umgebung, könnte ich mir doch glatt vorstellen, nach Grenchen umzuziehen.»

Die reizvolle Stadt

Soso. Machen wir doch den Test, wie sehr sich Urs Trösch eingrenchnern lässt. Und staunen. Auf die Frage, wie er in kurzen Worten die Stadt charakterisieren würde, kommt die Antwort ohne langes Zögern: «Die Lage ist reizvoll, die Stadt liegt im Grün.» Dazu komme die Nähe zum Jura, zur Aare und zum Bielersee. «Was will man mehr?» Das ist jetzt nicht einfach gespielte Freundlichkeit. Er kennt die Stadt schon länger, von seiner fast drei Jahrzehnte dauernden Tätigkeit bei der Vebo in Oensingen, wo er unter anderem auch für die betriebliche Sozialberatung der Grenchner Arbeitsstätte an der Bielstrasse in Grenchen verantwortlich war. Und er pflegte auch Kontakt zu anderen Institutionen. So auch zur «rodania». Natürlich. Bei der Vebo war er über viele Jahre und bis zur Pensionierung des langjährigen Direktors, Martin Plüss, in verschiedenen Funktionen tätig, zuletzt als dessen Stellvertreter. Diese Funktion nahm er auch beim Nachfolger wahr, der allerdings nach zwei Jahren bereits wieder weg war. «Für mich war der Zeitpunkt gekommen, etwas Neues zu suchen.» Er fand die neue Tätigkeit als Leiter der Beratungsstelle Solothurn von Pro Infirmis Aargau-Solothurn. Auch in dieser Funktion kam er in Kontakt mit der Stiftung. Er, der noch einmal eine ganz grosse neue Herausforderung suchte, bewarb sich um die neue Stelle des Gesamtleiters bei der «rodania» und erhielt den Zuschlag.

Die neue Herausforderung

Und im Januar 2021, als er seine neue Stelle antrat, fiel das in eine Zeit, die insbesondere auch in einer solchen Institution sehr schnell zu einer zusätzlichen Belastung wird. Die Sozialpädagogik war dem neuen Gesamtleiter nicht fremd. Er war darin geschult, machte unter anderem Praktika im «Bachtelen» in Grenchen und erwarb in der Folge ein Diplom in Sozialpädagogik. Die besonderen Umstände schenkten ihm dafür mehr Zeit, Klienten und auch Mitarbeitende in einer besonderen Situation wahrzunehmen. «Und ich habe diese Zeit sehr positiv erlebt.» Noch bis vor sieben Wochen herrschte Maskenpflicht im Haus. Und jetzt, 17 Monate später, ist endlich Normalität eingekehrt, in einer Organisation mit 80 internen und externen Klienten und 170 Mitarbeitenden.

Die Zeit ist nicht stillgestanden. Die Arbeitsbedingungen waren nicht nur speziell, sondern sehr anforderungsreich. «Das macht die Personalrekrutierung nicht einfacher», bringt er ein Problem auf den Punkt. Hier sind Fachleute gesucht, die sowohl in der Pflege als auch in der Sozialpädagogik zu Hause sind. Für ihn ist deshalb zwingend, dass man die Arbeitsbedingungen weiter attraktiviert, um in einem eher trockenen Markt motiviertes Personal zu finden. Das heisst? Mitarbeitende müssen nicht gleichzeitig Tag- und Nachtdienst leisten, sondern haben die Wahl. Einen zusätzlichen Anreiz sollen zudem mehr Ferientage geben.

Vieles hat sich geändert

Die Frage nach den Herausforderungen, die sich ihm und der neu formierten vierköpfigen Geschäftsleitung stellen, wird überflüssig. Wir sind mittendrin. Vieles hat sich geändert in den letzten zwei Jahren. Es habe einen Kulturwechsel gegeben, sagt Trösch, was unter anderem dazu führe, dass die Organisation grundsätzlich überprüft wird. Finanziell wird es ebenfalls steiniger. Das in diesem Jahr vom Kanton neu eingeführten Finanzsystem bedingte eine vollständige Neubewertung des Unterstützungsbedarfs der begleiteten Menschen, was sich auch auf die Finanzen auswirkt. Die Aufgaben bleiben die gleichen oder nehmen vielleicht sogar zu. «Also müssen wir beispielsweise die Abläufe optimieren», so Urs Trösch. Das führt zum Stichwort «Fundraising». Die Spenden sind vor allem während der Pandemie spürbar zurückgegangen. Einzig für den Neubau «Delphin» liegt das Ziel (1,2 von 1,5 Mio. Franken) nahe. Projektbezogene Spendenaufrufe lösten eine viel grössere Bereitschaft aus.

Ein Blick in die Heimat

Noch bevor Urs Trösch vielleicht mit dem Rad unter einem kleinen Wolkenbruch durch muss, verlegen wir unseren aktuellen Standort gedanklich in seine Wohngemeinde Langendorf. Hier ist er aufgewachsen, hier lebt er noch heute. Zusammen mit seiner Frau. Die drei Kinder sind erwachsen. Sein Sohn, ganz im Gegensatz zu ihm, ist politisch engagiert, studierte Politwissenschaften. Sein Vorgänger in der «rodania» ist politisch ebenfalls wesentlich aktiver. «In diesem Punkt unterscheiden wir uns», schmunzelt Trösch. In der Freizeit zieht es ihn viel mehr aufs Rad, ganz allgemein in die Natur. Er und seine Frau sind gerne unterwegs mit ihrem VW-Bus-Camper. Und im Winter zieht es die Familie auf die Skis. Und? Wie ist das jetzt mit dem Umzug in die Attika im Wohnhaus «Delphin»? Er sprach im Konjunktiv. Er wird die Wurzeln nicht mehr versetzen, heisst das. «Aber lieben kann man diese Stadt trotzdem», sagt er. Wenn das keine gute Antwort ist!