Die lange Geschichte der Elise Jeker-Wocher

Im Pflegezentrum Sunnepark drehte sich vor einer Woche alles um Elise Jeker-Wocher. Die gebürtige Baslerin, die seit über 60 Jahren in Grenchen lebt, feierte ihren 100. Geburtstag. Aussergewöhnlich ist nicht nur ihr hohes Alter, sondern auch sie selbst.

Elise Jeker-Wocher in ihrem Zimmer im Pflegezentrum Sunnepark in Grenchen.
Elise Jeker-Wocher in ihrem Zimmer im Pflegezentrum Sunnepark in Grenchen.

Ich treffe eine taffe Frau, geistig wach, die mit verhohlenem Schalk von ihrem langen Leben erzählt – im noch fast reinen Basler Dialekt. «Den vergisst man nicht», sagt die gebürtige Baslerin, die nur ein Fünftel ihres bisherigen Lebens am nördlichen Zipfel der Schweiz verbracht hat. Seit einiger Zeit ist Elise Jeker an den Rollstuhl gebunden, weil die Beine nicht mehr so wollen. Ihr Gehör sei auch nicht mehr so gut. Mit 100, denkt man sich unausgesprochen, muss man auch nicht mehr alles hören. 
Aber erzählen, das kann Elise Jeker noch ganz gut. Dass sie, die gebürtige Baslerin, mit ihrer Familie in Grenchen gelandet ist, ist kein Zufall, sondern gegeben. Warum? Ganz einfach: Ihr Mann war Kantonspolizist, und die wurden damals im Rotationsverfahren an immer neue Standorte versetzt. Die letzte Station der polizeilichen Wanderjahre war Grenchen – vor gut 60 Jahren. Eine lange Zeit. Tatsächlich. Meint sie auch. Aber zum Lebensmittelpunkt ist Grenchen für sie nie geworden. «Das hat nichts mit der Stadt zu tun, sondern mit meiner Vorgeschichte.» Wir sind gespannt und drehen das Rad um 100 Jahre zurück. 
Es war der 19. Januar 1923, als Elise Jeker, gebürtige Wocher, im Kantonsspital Basel zur Welt kam. Ihre Eltern stammen aus dem Elsass und wohnten im Grenzgebiet. Weil sie aber in der Schweiz geboren wurde, erhielt sie automatisch das Bürgerrecht. 1931 zog die Familie nach Flüh im Solothurner Bezirk Thierstein, unweit der französischen Grenze, und zog in ein neu errichtetes Einfamilienhaus. Flüh, sagt die Frau, die seit über 60 Jahren in Grenchen wohnt, «ist mein Daheim».

«Du bleibst Hausfrau»
Mit 20 Jahren heiratete sie Kantonspolizist Ernst Jeker. Eine Berufslehre blieb ihr verwehrt, ihr Vater gab ihr einen damals üblichen Rat auf ihren künftigen Weg: «Du bleibst Hausfrau, der Mann ist der Ernährer.» Daran hielt sie sich auch – vorerst. Das noch junge Ehepaar verliess Flüh, nachdem ihr Mann nach Matzendorf auf die Polizeistation beordert worden war. Als junge Frau habe sie sich schon sehr über die «Dienstwohnung» gewundert – in einem alten Bauernhaus ohne geringsten Komfort. Kein Bad, kein Warmwasser, kein nichts. Im Stall gab es ein Plumpsklo. Die beiden fügten sich in ihr Schicksal und wurden im Thal schnell heimisch. Hier kamen die beiden Söhne Ruedi und Franz auf die Welt. Der jüngere am 7. Juli 1944, der ältere am 8. August 1945. Vier Jahre später wurde die erweiterte Familie für ihr Ausharren belohnt. Sie konnten in ein vom Kanton zur Verfügung gestelltes schmuckes Einfamilienhaus einziehen. 
Ein paar Jahre später ging die Reise weiter – nach Trimbach. Und hier brach Elise Jeker mit dem Ratschlag ihres Vaters und half fortan mit, die Familie gemeinsam mit ihrem Mann zu ernähren. Im Warenhaus Von Felbert in Olten fand sie eine Anstellung im Verkauf. Ihre Tätigkeit sollte nicht um des Komforts willen sein, sondern ihren Söhnen eine Ausbildung ermöglichen, was ihr selbst in ihrer eigenen Jugend verwehrt geblieben war. Als die Familie Anfang der sechziger Jahre nach Grenchen zog, wechselte das Warenhaus, nicht aber ihr Job. Sie übernahm in der EPA in Grenchen die Geschirrabteilung, wie sie heute erzählt. In dieser Zeit gingen die Söhne in die Kanti Solothurn und später an die Hoch­schule. 

Matzendorf war ihr zweites Daheim
So richtig angekommen sei sie aber an den verschiedenen Stationen in den zwei Jahrzehnten einzig in Matzendorf – ein Dorf im Thal und nicht wirklich der Nabel der Welt. Sie fand aber Zugang zu den Einheimischen – und vor allem zur Fasnacht. «Wissen Sie», sagt sie, «als richtige Baslerin liebt man die Fasnacht über alles.» Und von diesem Treiben schien sie in Matzendorf besonders angetan gewesen zu sein. Beim Abschied sagte sie noch einmal: «Vergessen Sie nicht, die Fasnacht zu erwähnen. Das ist mir ganz wichtig.» 
Ihre Erzählungen beginnen oder enden oft wieder in diesem Matzendorf. Zum Beispiel erzählt sie die Reminiszenz von einer im Dorf stationierten Einheit und dem Soldaten, der in der einzigen Zelle im Posten für fünf Tage in scharfen Arrest versetzt wurde, weil er den Feldweibel angepöbelt hatte. «Das war kein Zuckerlecken für den Mann», erinnert sie sich. Wenn ihr Gatte unterwegs gewesen sei, habe sie dem Inhaftierten Kaffee und Butterbrote gebracht. Ihren weichen Kern bekamen auch andere zu spüren. Aber auch ihre harte Schale in Form eines störrischen Kopfes. Den habe schon ihre Mutter gehabt. Da war ein Offizier – und sie erzählt noch einmal vom Soldaten in der Arrestzelle –, der unbedarft auf dem Posten auftauchte und nach dem unter Arrest stehenden Soldat sehen wollte. Sie spedierte ihn gleich wieder weg mit den Worten, er habe hier nichts zu suchen. «So störrisch konnte ich sein», sagt sie mit einem schon fast schelmischen Lächeln. 

14 Jahre in der EPA Grenchen
Es gäbe noch viele Geschichten, meint sie, winkt aber mit der Hand gleichzeitig ab, also wolle sie damit sagen: «Ach, das interessiert Sie sowieso nicht.» Natürlich interessiert es mich. Die lange Zeit, die sie und ihre Familie in Grenchen verbracht haben, ganz besonders. Zum Beispiel die 14 Jahre als Verkäuferin in der EPA: Wie war das? Sie will nicht vom Alltag erzählen. Sie überlegt einen Moment: «Diebstahl gab es eher selten.» Sie erinnert sich indes an den Zwischenfall, als sie über Mittag allein im Geschäft war. Sie hörte, wie jemand an der Kasse manipulierte, schaute nach, und entdeckte einen Mann, der hektisch in die Kasse griff und sich dann schleunigst aus dem Staub machte. Sie verfolgte ihn und konnte erwirken, dass er kurz zu Boden ging und dabei einen Teil seiner Beute verlor. Warum sie sich ausgerechnet an diese Geschichte erinnert? «Da ist immer noch der Instinkt eines Polizisten im Herz.»
Nach dem Tod ihres Mannes zog sie von ihrem Eigenheim an der Eschenstrasse aus und in eine Mietwohnung an der Mazzinistrasse. 35 Jahre lebte sie dort. Sie rühmt ihre damaligen Nachbarn: «Wir hatten ein gutes Verhältnis zueinander und halfen und unterstützten uns gegenseitig.» In dieser Zeit reiste sie oft mit der Bahn zu ihren beiden Söhnen und Familien. Der jüngere Sohn Ruedi war Regierungsrat im Kanton Zürich, Franz praktizierender Arzt im sankt-gallischen Jona. Stolz ist sie nicht nur auf ihre Söhne, sondern auch auf die mittlerweile fünf Grosskinder und ein Urgrosskind. 

Alltag mit Struktur
Mit 92 Jahren zog sie auf Rat ihrer Familie in das Pflegezentrum Sunnepark, nachdem die körperlichen Kräfte langsam nachgelassen hatten, und lebt seither in einem mit ihren Möbeln eingerichteten Zimmer. 
Vieles ist nicht mehr so, wie es war. Das ist klar. Aber ihr Alltag hat Struktur. Sie malt sehr gerne. Sie zeigt auf eine Kommode. «Holen Sie sich den farbigen Ordner aus der vordersten Schublade», sagt sie. Zeichnungen verschiedenster Art sind hier fein säuberlich abgelegt – unter anderem eine Bleistiftskizze vom «Wandfluh-Männli». Heute malt sie gerne Mandalas. Sie liest aber jeden Tag die Zeitung, und immer um 18 Uhr sieht sie sich im Fernsehen eine Serie mit Gerichtsverhandlungen an. Das interessiert sie ganz besonders. Wir lachen beide, sie spricht es aus: «Berufskrankheit!» 
Der heutige Tag, der 19. Januar 2023, ist ein besonderer. Das weiss sie, so gut wie alle anderen auch. 100 Jahre alt werden ist nicht Alltag. Das ist speziell. «Darum ist heute auch einiges los», schmunzelt sie. Um 11 Uhr war der Stadtpräsident da; dann das festliche Mittagessen. Am Sonntag trifft sich die ganze Familie zu einem Essen in Grenchen. Und am Montagnachmittag macht die Kantonsregierung ihre Aufwartung. Das alles, etwas Abwechslung im Alltag, nimmt sie mit stoischer Ruhe entgegen. Ruhigere Zeiten werden wieder kommen. 
«So», sagt sie, «jetzt kommt glaub ich schon bald der nächste Besuch.»