Eine Frühstarterin mit Ansage

Viviana Cali

Für Viviana Cali ist ein Spagat Teil einer Ballettchoreografie – für mich ist es eine Redensart: zwei Dinge tun zu müssen, die sich nur schwer miteinander vereinbaren lassen. Aber das sage ich nicht zu der jungen, hübschen Frau, die ich in der Innenstadt von Grenchen treffe. Sie hat es – als wäre diese maximale Streckung der Beine auf einer geraden Linie die einfachste Sache der Welt – in über 16 Vorstellungen auf der Bühne des Freilichtspiels in Grenchen gemacht. Es war ihr erster Auftritt als Schauspielerin auf der Bühne. Eine ihrer künstlerischen Welten war bisher die Musicalbühne. Dieses Handwerk hat sie gelernt, ganz oben an der Karte unseres nördlichen Nachbarn. Dazu aber später mehr.

Die 22‑Jährige ist in Grenchen geboren und aufgewachsen. Hier lebt sie noch heute und blickt dankbar zurück auf all die Jahre in dieser Stadt, in der, wie sie sagt, das Fundament gelegt wurde, das ihr in ihrem jungen Leben bisher so viel ermöglicht hat.

Wir sehen uns zum ersten Mal – in einem Café in der Innenstadt. Ein Erkennungszeichen ist nicht nötig. Sie kennt mich nicht, aber ich kenne sie. Als wir uns über Whatsapp verabredeten, war sie gerade in Holland. Mitte August treffen wir uns dann. Genauso unkompliziert und spontan wie die Verabredung ist auch das Gespräch. Ohne die übliche «Aufwärmrunde» mit einem ersten Beschnuppern und Spüren, was das Gegenüber denkt oder erwartet.

Und so beginnt der Dialog, als würden wir uns schon lange kennen. «Wo warst du in Holland und warum?» Sie war bei der Weltmeisterschaft für Jazz in Apeldoorn, einer Stadt mit 168000 Einwohnern, der viertgrössten Gemeinde Hollands. Aha. Das muss etwas Grösseres gewesen sein? Richtig. In Grenchen unterrichtet sie Ballett und Jazzdance. Im Parktheater ertanzte sich ein Duo in einem Qualifikationswettbewerb den 1. Platz und somit das Ticket für den Final in Holland, wo sie den undankbaren, aber sehr beachtlichen 4. Schlussrang belegte. Die Tänzerin, Schauspielerin und Musikerin ist also auch noch Lehrerin. Beeindruckend!

Wir ziehen einen Strich unter die Gegenwart und drehen das Rad ein wenig zurück. Mit vier Jahren schlüpfte sie zum ersten Mal in Ballettschuhe und nahm sich fest vor, eines Tages auf den grossen Ballettbühnen zu stehen. Einen wesentlichen Teil ihrer Ausbildung genoss sie bei der bekannten Grenchner Ballettlehrerin Barbara Bernard. «Irgendwann», sagt sie im Gespräch, «ist dieser Lebenstraum geplatzt.» Ihr späterer Ballettlehrer habe ihr geholfen, den Schritt auf die Musicalbühne zu wagen. Leichter gesagt als getan. Für sie war klar – sie war 14 Jahre alt –, dass sie nach Hamburg musste, wo eine renommierte Schule die neue Herausforderung verwirklichen konnte. 500 Interessierte bewarben sich um einen Platz, 50 wurden aufgenommen, darunter die zierliche und selbstbewusste Grenchnerin.

Ihre Eltern unterstützten sie damals – ideell und finanziell. Mit 16 zog sie in die Hansestadt an der Nordsee, wohnte in einer WG, ganz in der Nähe der Schule. Ihr Rückblick ist zwiespältig. «Es war eine schwierige Eingewöhnungszeit. Alltägliche Dinge wie Waschen und Kochen waren nicht immer einfach. Wenn ich nicht weiter wusste, rief ich meine Mutter an, die während der Ausbildung gefühlte 20-mal nach Hamburg fuhr.» Auch die eher kühlen Norddeutschen machten es der jungen Frau mit ihren italienischen Wurzeln nicht immer leicht. «Mein Vater ist Sizilianer: herzlich, gastfreundlich, hilfsbereit. Auf der anderen Seite die eher emotionslosen und manchmal auch unfreundlichen Menschen, die von morgens bis abends für jede Art von Gruss ‹Moin› sagen.» In der Welt der Künstler sei der Raum für Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft eher klein. «Wenn es sein muss und es um den eigenen Vorteil geht, werden die Ellenbogen ausgefahren», sagt sie. Oft sei sie gefragt worden: «Warum bist du immer so nett?»

Von Frust oder Verbitterung keine Spur. Mit einem Lächeln blickt sie zurück. Hamburg und die Schule haben sie reifer gemacht, bereit für den ständigen Wettbewerb um einen Platz an der Sonne. Für die Musicalaufführungen auf der Schulbühne gab es immer Castings. Für ein Weihnachtsmusical stand sie über 60‑mal auf der Bühne. Sie hat gelernt, was es heisst, sich für jeden Auftritt so zu motivieren, als wäre es der erste.

Nicht anders war es bei ihrer Bühnenpremiere als Schauspielerin am Freilichtspiel in Grenchen. «Das war eine ganz besondere Erfahrung», sagt sie rückblickend. «Eine gute, sehr positive», fügt sie hinzu. Sie schwärmt von der Regisseurin Melanie Gehrig. «Sie hat uns viel Freiheit gelassen.» Das hätten ihr alle Schauspielerinnen und Schauspieler mit einer tollen Leistung gedankt. Und wie war für sie der Auftritt in der nahen Heimat? «Speziell», sagt sie, «sehr speziell. Wenn man so nah an den Zuschauern ist, viele von ihnen persönlich kennt, baut sich automatisch mehr Druck auf.» Aber sie hat es genossen – von der ersten bis zur 16. Vorstellung. «Dieses Jahr», sagt sie plötzlich wie aus dem Nichts, «ist so schnell vergangen – zumindest die ersten sieben Monate», lächelt sie. Neben Schule und anderen Engagements probten sie seit Fe­bruar für das Matter-Stück «I han es Zündhölzli azündt». Dann kamen die 16 Aufführungen «en bloc», «und schwupps: ist Ende August». Krank? Nein, war sie in dieser Zeit nicht. Einmal hatte sie ein bisschen Fieber vor der Vorstellung. Männer und Frauen auf der Bühne werden nicht so schnell müde. Doppelbesetzungen gab es in Grenchen nicht. Wäre eine Schauspielerin oder ein Schauspieler kurzfristig ausgefallen, hätte die Aufführung abgesagt werden müssen. So ist das eben!

Und: Wie kam ihr ihre Bühnenpremiere als Schauspielerin vor? Im Gegensatz zum Musical sei die Schauspielerei sehr intim. Sie will sagen: Es herrscht mehr Teamgeist. Man hilft sich gegenseitig, wenn einer einen Aussetzer hat, gibt man den nötigen Impuls, um ihn wieder in die Rolle zu bringen. Nicht ­anders ist der Spannungsaufbau: «Die Spannung muss von Anfang bis Ende hoch gehalten werden. Von der Premiere bis zur Derniere.» Schon länger hat sie beschlossen, die Schauspielerei mehr zu favorisieren in ihrer künftigen Tätigkeit. «Der Auftritt ist authentisch, widerspiegelt das Leben. Ein Musical wirkt eher aufgesetzt, unnatürlich.»

Es ist eine schöne Geschichte, die mir Viviana Cali da erzählt. Und sie ist authentisch, weil wahr. Und doch frage ich mich: Wie sieht der Alltag einer solchen jungen Frau aus, die im wahrsten Sinne des Wortes auf mehreren Hochzeiten tanzt? «Alltag? Den habe ich auch.» Von 16 bis 21.30 Uhr unterrichtet sie in ihrer Tanzschule Attitude mit Teilnehmenden zwischen 4 und 26 Jahren. Am Vormittag bereitet sie den Unterricht vor. Einmal im Monat fährt sie für Auf­nahmen in ein Musikstudio nach Zürich. Sie spielt Uku­lele, Gitarre und Klavier. Sie schreibt selbst Texte und komponiert. «Und wenn ich ein Engagement habe, sieht der Alltag ein bisschen anders aus.» Das gilt auch für den Ballett- und Jazzdance-­Unterricht. Sie kooperiert mit anderen Schulen und hat so immer die Lösung für eine Stellvertretung. Hobbys? Sind schnell aufgezählt. Ihr Beruf ist ihr Hobby. Aber sie ist auch ein Familienmensch, liebt Tiere über alles – vor allem ihren Hund. Sie hat einen älteren Bruder (30) und eine ältere Schwester (27). Sie selbst wohnt in Grenchen.

Heute ist heute. Morgen ist morgen. Sie ist froh, nicht «nur» beim Ballett geblieben zu sein. Ihre Vielseitigkeit als Musikerin und Schauspielerin mit ihrem grossen Tanzwissen kommt ihr zugute in einem Beruf, der in der Schweiz nicht anerkannt ist. Die Schauspielerei ist ein hartes Geschäft. «No risk, no fun», sagt sie. «Ich habe nur ein Leben, und in diesem will ich so viel wie möglich erreichen.» In diesem Leben ist auch Platz für Freunde, auch wenn sie aus ihrer Jugend nicht mehr viele Kontakte hat. Mit zwölf Jahren trainierte sie bereits sechsmal die Woche. Da blieb nicht viel Zeit für andere Dinge. Ob sie schon daran gedacht habe, später einmal eine Familie zu gründen? Sie lächelt wieder: «Ich möchte bestimmt mal ein Haus haben, damit alle Tiere Platz haben.» Kinder? «Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich sehe mich eher als coole Tante, die gerne Kinder hat, sie aber genauso gerne wieder abgibt.»

Viviana Calis bestechende Ehrlichkeit ist ansteckend. Das sind gute Eigenschaften, auch in einer Welt, die nicht einfach ist. Ich denke, wir werden von ihr noch das eine oder andere hören!