Flurin Thöni – der «Hauschirurg von Grenchen»
Flurin Thöni blickt nachdenklich zum gegenüberliegenden Restaurant Baracoa. Vor allem im Sommer habe er manchmal Lust, die Praxis kurz zu schliessen und sich in diesem Strassencafé eine Auszeit zu nehmen. Gemacht hat er das noch nie. Wahrscheinlich hat ihm die Zeit gefehlt. Bis 25 Patientinnen und Patienten gingen täglich bei ihm ein und aus, erzählt er. Und das seit gut 18 Jahren. 2006 hat er die chirurgische Facharztpraxis am Postmarkt eröffnet. Alles in allem, rechnet er vor, stehen heute rund 13000 Namen in seiner Kartei. Seine Praxis ist nicht wie jede andere hier in Grenchen. Sein «Behandlungszimmer» ist ein richtiger, professionell eingerichteter Operationssaal. Die meisten ambulanten Eingriffe werden in Lokalanästhesie durchgeführt. Bei grösseren Eingriffen oder bei ängstlichen Patienten ist eine Vollnarkose besser geeignet – auch bei Kindern ist sie einfacher und schonender. In solchen Fällen zieht Flurin Thöni einen Anästhesisten bei, welcher auf ambulante Operationen spezialisiert ist. Der jüngste ambulant operierte Patient war bisher zwei Jahre alt, die älteste 96. Das muss man sich mal vorstellen.
Wie Flurin Thöni nach Grenchen kam
Soweit die Momentaufnahme. Wir wollen aber der (Vor-)Geschichte dieser interessanten Saga auf den Grund gehen. Wie kommt dieser Mann, der in Basel geboren und aufgewachsen ist und schon an verschiedenen Orten als Chirurg gearbeitet hat, nach Grenchen? Ganz einfach: Er fand eine Stelle. Er arbeitete im Kantonsspital Münsterlingen im Kanton Thurgau. Dort wurde er eines Tages von Chefarzt Jürg Ammann in sein Büro gerufen. Der teilte ihm mit, dass in Grenchen ein Chefarzt Chirurgie gesucht würde. Und er dachte an ihn, Flurin Thöni. «Ich wusste damals nicht einmal, wo Grenchen liegt, geschweige denn, dass ich vom Spital gehört hätte.» Er, der eigentlich ein waschechter Bündner ist, arbeitete zuvor im Regionalspital Ilanz, in der Surselva. Dort lernte er auch seine spätere Frau kennen. «Ilanz», erzählt er, «hatte damals die Grösse von Grenchen.» Und so konnte er sich ungefähr vorstellen, was ihn erwartete. Jedenfalls bewarb er sich für die besagte Stelle – und erhielt prompt den Zuschlag. Und so kam Flurin Thöni mit seiner Frau und den drei Kindern an den Jurasüdfuss, bezog ein Haus in der Nähe des Spitals und lebte sich schnell ein. Er zeigt nach Norden. «Dort oben, auf dem Jura, das ist Lebensqualität.» Die hat er auch an seiner neuen Wirkungsstätte gefunden. Neun Jahre lang leitete er die Chirurgie, bevor ab 2005 die schrittweise Schliessung des Spitals Grenchen ihren Lauf nahm.
Ein breites Spektrum
Und mit dem Ende an der Wissbächlistrasse begann eine neue Ära, die am Postmarkt. Er fasste sich ein Herz, richtete in seiner Praxis einen Operationssaal ein und begann, ambulant zu operieren. Das Angebot kam an – wie ein Blitz. Bald war Flurin Thöni der «Hauschirurg von Grenchen».
Fragt man ihn nach seinem Leistungsspektrum, breitet sich vor dem geistigen Auge ein kleines chirurgisches Lexikon aus: Bauch- und Gefässchirurgie, Entfernung von gut- und bösartigen Hauttumoren, Operationen am Bewegungsapparat allgemein. Auch ein eingewachsener Zehennagel gehört dazu. «Einfach alles, was ein chirurgisches Fossil wie ich operieren kann.» Fossil? Flurin Thöni schmunzelt. Er habe eine sehr gute allgemeinchirurgische Ausbildung genossen, schwärmt er. «Die Spezialisierung kam erst später. Ich habe noch fast alles gelernt: Eingriffe am Herzen, aber auch das breite Spektrum der Unfall-, Hand-, Neuro- und Kinderchirurgie.»
Die Nähe zum Bündnerland
Gerne wüsste man mehr über den sportlich wirkenden Mann. Über seine Herkunft, seine privaten Seiten. Man hört aus seinen Worten, dass er lieber über seine längst lieb gewonnene Praxis und die damit verbundene Arbeit spricht. «Aber bitte», sagt er. Sein Basler Dialekt ist unvergänglich. In der Stadt ist er zur Schule gegangen, an der dortigen Universität hat er sein Handwerk gelernt. Zu Hause in Basel wurde Rätoromanisch gesprochen. Sein Vater war Lehrer. «Aber im Albulatal, wo meine Eltern herkamen, gab es keine Ganzjahresstellen. Also ging er dorthin, wo er das ganze Jahr unterrichten konnte, ins Unterland.» Zwölf Wochen Schulferien gab es damals schon. Und so verbrachte die Familie jeweils drei Monate in ihrer Heimatgemeinde Stierva, einem kleinen Dorf mit gut 100 Einwohnern. Mit Stierva verbinde er seine schönsten Kindheits- und Jugenderinnerungen, sagt Flurin Thöni. Bis heute. «Hier leben meine Verwandten, hier war unser Haus, Land und eine Alp und hierher kommen wir immer wieder gerne zurück.» Mit seiner Frau geht er in den Ferien auch gerne auf Trekkingtouren. Dafür reisen sie weit – zum Beispiel in den Kaukasus, in den Himalaja, nach Südamerika, mit Rucksack und Schlafsack. Mit Übernachtungen in Hütten, im Zelt. Was sich gerade anbietet. Mit Händen und Füssen muss er sich in der Regel auch nicht verständigen. Neben Rätoromanisch und Deutsch spricht er fliessend Französisch, Italienisch, Spanisch und Englisch.
Mehr Hausärzte wären nötig
Wollen wir noch kurz über das kränkelnde Gesundheitssystem sprechen? Er will. «Jeder fünfte Arzt in unserem Land ist wie ich schon im Rentenalter. Wir bilden jedes Jahr 1300 Ärzte aus. Nur 1300», betont er. Dagegen würden fast doppelt so viele ausländische Diplome vor allem von Spezialisten anerkannt. Was läuft hier falsch? Eine ganze Menge! Und was schlägt er vor? «Wir brauchen mehr und gut ausgebildete Hausärzte und Hausärztinnen. Das bringt bessere Behandlungsqualität und spart vor allem viel Geld im Gesundheitswesen.»
Mit 66 Jahren hat er genug. «Körperlich und geistig bin ich noch fit. Da ist es besser, rechtzeitig aufzuhören.» Und ja: Die zunehmenden Einschränkungen und Vorschriften seitens der Behörden haben ihm die Entscheidung noch leichter gemacht. Und dann konnte er, ein Glücksfall, auch noch seine Nachfolge regeln. Gleich doppelt. Dr. med. Janine Sinistra, Fachärztin für Chirurgie, und PD Dr. med. René Fahrner, ebenfalls ein ausgewiesener Chirurg, führen seine Praxis nahtlos weiter. Beide Ärzte wohnen mit ihren Familien in der Region.
Und so kann Flurin Thöni in einer Woche getrost den Schlüssel übergeben und für die nächste Reise packen. Die steht schon fest. Zuerst geht es nach Taiwan, dann nach Neuseeland. In rund drei Monaten sind er und seine Frau zurück, rechtzeitig zur Geburt ihres zweiten Enkelkindes. In Bettlach werden sie auch nach der Pensionierung wohnen bleiben. Er freut sich nicht nur auf viele weitere sportliche Aktivitäten, sondern auch auf den Besuch von Konzerten, Musicals oder Ausstellungen. «Und ja», sagt er auch, «ich habe meine drei Kinder gross werden sehen, gesehen habe ich sie aber oft erst abends, wenn sie schon schliefen.» Das lässt sich nicht mehr nachholen, aber er freut sich, wenn er in Zukunft auch dafür mehr Zeit findet – für die Begegnung mit ihnen, ihren Familien und den Enkelkindern natürlich. Er zwinkert kurz mit den Augen und meint es ernst: «Das sind doch spannende Perspektiven. Nicht wahr?» Klar.
Alles Gute, Doc «Mr. Hauschirurg von Grenchen»!