Iris Minder: Eine unendliche Geschichte

Mira, eine 14-jährige Sheltie-Hündin, beschnuppert neugierig ihr Gegenüber. Iris Minder, mein Gast, hat sie nicht als «Verstärkung» dabei, sondern weil Mira im Auto unter der gleissenden Frühlingssonne leiden würde. Mira stört nicht. Sie hat ihren Platz unter dem Tisch gefunden.
Schnell merke ich: Jede noch so kleine Begebenheit im Gespräch mit der gebürtigen Luzernerin, die fast ihr halbes Leben in Grenchen verbracht hat, wird zur Geschichte. Denn die temperamentvolle und rastlos wirkende Frau hat viel erlebt und ebenso viel gelernt. Als Sechsjährige, so erinnert sie sich, besuchte sie mit ihrer Mutter eine Aufführung von «Schneeweisschen und Rosenrot» in Luzern. «Und nach der Vorstellung habe ich beschlossen, dass sich mein Leben um das Theater drehen wird.»
Wie so vieles in ihrem bisher 74-jährigen Leben ist auch das dank ihrer Beharrlichkeit in Erfüllung gegangen. Wer in Grenchen vom Theater spricht, kommt an Iris Minder nicht vorbei. Sie war Initiantin und Gründerin der Schopfbühne, der Freilichtspiele, des Theaters Jawohl (Seniorenbühne), der Szenenspiele und des Kindertheaters Blitz. Und sie war auch Mitinitiantin der Gesamtschule für Theater Grenchen. Das alles ist Vergangenheit. Das eine oder andere Projekt liegt in anderen Händen. Im November wird ein Jubiläumsstück aufgeführt: «Der ungarische Graf». Damit verbindet sie ihr bisheriges Engagement auf den verschiedenen Bühnen und nimmt gleichzeitig Abschied von der Theaterbühne. Das darf sie auch. Aber nichts tun, das will sie auch in Zukunft nicht. Kann sie nicht: «Ich sehne mich zwar nach einem geregelten Leben, stehe in einer schönen Bauernküche, auf dem Tisch locken ein Gugelhupf und ein Milchkaffee. Ich will mich setzen – mein Kopf sagt: Ich bin müde, aber nichts tun? Geht nicht!»
Was wurde dieser Frau in die Wiege gelegt? Am 6. August 1951, so erzählte man ihr später, seien die alten Mauern des Zentralgefängnisses in Luzern gesprengt worden und ein heftiges Gewitter habe über der Stadt getobt. «Manchmal sehe ich mein Leben darin: Heftig, ruhelos, immer auf der Suche nach Neuem, Kreativen, Getriebenen. Das Tempo ist schnell. Für manche vielleicht zu schnell. Es kommt zum Chlapf. Und ich denke: Was habe ich jetzt wieder falsch gemacht?» Sie weiss, dass sie polarisiert, dass sie manchmal Leute vor den Kopf stösst, ohne es zu wollen. Aber das war schon als Kind so. Als sogenannt schwer erziehbares Mädchen hatte sie es schwer, gehörte irgendwie nie dazu und musste zu einem lieben, braven Mädchen umgeformt werden. So hat sie immer wieder das Gefühl, dass sie, so wie sie ist, nicht richtig ist.
Wie wuchs die gebürtige, reformierte Luzernerin auf? Und auch das ist eine Geschichte – eine Geschichte, die vor Jahrzehnten vor allem in katholisch geprägten Gegenden vielschichtig war. Ihr Grossvater, ein Katholik, heiratete eine Reformierte. Kurz nach der Hochzeit hatte er einen Motorradunfall. Im Krankenhaus sagte ihm der Pfarrer, der ihn besuchte, das sei die Strafe Gottes, weil er reformiert geheiratet habe. Da beschloss er aus Trotz, den reformierten Glauben seiner Frau anzunehmen. Die logische Folge war, dass auch die Mutter von Iris Minder reformiert war. Der Vater, reformiert, bekam deshalb im katholischen Luzern keine feste Anstellung. Als sogenannter Verweser verdiente er als Lehrer viel weniger. «Meine Eltern hatten deshalb in den 50er- und 60er-Jahren nie viel Geld.» Ihre drei Kinder – Iris war die Älteste, ein Bruder und eine Schwester – brachten sie trotzdem durch.
Iris beschloss, weil ihr Traumberuf «Schauspielerin» für sie damals unerreichbar schien, halt eine Familie zu gründen, am besten mit fünf Kindern. So heiratete sie mit 29 einen Journalisten vom «Bund». Die Ehe ging nach neun Jahren kinderlos auseinander. «Ich bin ihm jedoch dankbar, weil ich nämlich mein Leben von da an endlich selber in die Hand nahm.»
Dieser Einschnitt gab den Ausschlag für das Studium der Ethnologie und Germanistik, das sie mit dem Lizenziat (Master) abschloss. Es war ein Studium unter vielen. 1991 öffnete sich für sie eine neue Welt, die Welt von Grenchen. Sie wurde als erste weibliche Chefbeamtin als Leiterin des neu gegründeten Amtes für Kultur gewählt. Damit begann die bisher längste Geschichte ihres Lebens: mit vielen schönen, einprägsamen und auch schmerzlichen Erlebnissen. Ihre Stelle wurde halbiert, weil sie nicht auch noch Stadtarchivarin sein wollte. Das Kulturamt wurde zu einer 50-Prozent-Stelle. Als Stadtarchivarin wurde damals Salomé Moser eingesetzt.
Das reichte ihr, um eine Vielzahl von Projekten zu entwickeln und durchzuführen. Das wohl eindrucksvollste ist die Chürbisnacht, die sie 1996 ins Leben rief und bis 2000 leitete. Sie winkt ab. «Dass es die Chürbisnacht heute noch gibt, ist Jenny Mattila zu verdanken», reicht Iris nach. Punkt. Weiter im Text. 1994 schuf sie für Grenchen eine Tonbildschau. Ein Jahr zuvor initiierte sie zusammen mit Roswitha Schild 600 Jahre Grenchen bei Solothurn im Palais Besenval in Solothurn, und ein Jahr später beschloss sie, dass Grenchen auch ohne Altstadt viel Sehenswertes hat, und stellte Stadtführungen auf die Beine. Prägend war auch die Mitbegründung des Kultur-Historischen Museums, das letztes Jahr sein 25-jähriges Bestehen feierte. Zehn Jahre lang leitete sie das Kulturamt und hinterliess viele Spuren. Viele gute.
Was hat diese Frau alles gelernt, studiert, um diese geballte Ladung an Kreativität und Schaffenskraft zu entwickeln? Zu viel, um alles aufzuzählen. Sie liess sich als Theatertherapeutin ausbilden und studierte zusätzlich Theaterwissenschaft. Das Doktorat wurde ihr auf dem Tablett serviert, aber das liess sie sausen. In ihrem CV steht auch, dass sie Gärtnerlehrlinge in Kultur und Sprache unterrichtete, Privatdozentin war, unter anderem an der Sporthochschule Magglingen, und – man schmunzle und staune: Sie arbeitete als Chefsekretärin. Es war ihr erster gut bezahlter Job, und mit einem Teil ihres ersten Salärs leistete sie sich Rauchlachs. Heute schmunzelt sie über ihr ganzes Gesicht, wenn sie das erzählt. Das rund 20-seitige Dossier über Iris Minders Werdegang umfasst auch ihr Hang zum Schreiben. Die Tätigkeit als Amtschefin blieb die einzige feste Anstellung. In den folgenden 25 Jahren arbeitete sie neben ihrer schon fast Überaktivität als ruhelose Regisseurin von zahlreichen Produktionen auch als Journalistin und schrieb noch vor allen anderen Produktionen die ersten Krimis von und über Grenchen: «Grenchner Netz», «Grenchner Nacht», «Grencher Traum». Alle erschienen im Eigenverlag. Es sei nicht ihr Ziel gewesen, Krimiautorin zu werden. Sie hat einfach Lust zum Schreiben. Ihr Dossier mit Ehrungen und Auszeichnungen ist überschaubar. 2006 erhielt sie den Kulturpreis der Stadt Grenchen. Und? «Nichts und!», erwidert sie. Sie sei weder Jägerin noch Sammlerin von irgendwelchen Titeln und Auszeichnungen. Was sie in ihrem bisherigen Leben geleistet und auch für die Öffentlichkeit getan hat, genüge ihr.
Gibt es Dinge in ihrem Leben, die sie – ob negativ oder positiv – noch nicht hat verarbeiten können? Sie habe noch heute immer das Gefühl des Versagens; die Angst davor, dass Dinge nicht so laufen, wie sie das gerne hätte. Und später komme das Gefühl auf, dass ihre Arbeit auf ihre Fehler reduziert würde. Spricht da Resignation? «Nein! Im Gegenteil. Ich habe Grenchen viel zu verdanken – sei es der Behörde oder Mitmenschen. Ich konnte immer mich selber sein, das umsetzen, was ich mir vorgenommen habe.» Dass sie, nach dem Verlust ihres eigenen Theaters «Gänggi», noch weiter arbeiten kann, verdankt sie Stadtpräsident François Scheidegger und auch Mike Brotschi, die dafür gesorgt hätten, dass sie zusammen mit Nadja Rehli, der heutigen Leiterin des Kindertheaters BLITZ, ein Probelokal zur Verfügung hat, in der ehemaligen Dienstwohnung der SWG.
Mit ihren Geschwistern hat sie immer noch regen Kontakt. Ihr Bruder war Chirurg, ihre Schwester, «die beste Schwester der Welt», wie sie gleich anfügt, war Psychologin. Wenn sie ihre Bühnenderniere im November dieses Jahres hat, wird sie schon bald 75 Jahre. Und wie wir wissen, ist diese schier unendliche Geschichte der Iris Minder noch nicht vorbei.