Spagat zwischen Brauchtum und Zeitgeist
Endlich wieder einmal ein Schwingsportanlass von Bedeutung in Grenchen: das 128.Solothurner Kantonale. Über 2000 Zuschauende dankten es mit einer tollen Stimmung.
Noch schläft die Stadt. Wer früh unterwegs ist, entdeckt eine gesperrte Bielstrasse, die kurzerhand in eine grosse Parkplatzfläche umgewandelt wurde. In der Stadt herrscht Schwingfestfieber. Die Zuschauer mehren sich auf dem Gelände beim Bahnhof Nord. Was sich in den letzten Jahren immer mehr abgezeichnet hat, ist das stete Wachstum der Schwingsportszene in positivem Sinn.
Sie lebt von viel Tradition: Vor dem Kampf schauen sich die beiden Akteure in die Augen. Gibt es einen Sieger, wischt dieser dem Gegner das Sägemehl vom Rücken. In der Arena sind keine Sponsorenaufschriften erlaubt. Auch Anschriften der Abfalleimer müssen zugeklebt werden. Gewisse Veränderungen haben trotzdem stattgefunden: Der sich oft etwas dahinziehende Festakt zwischen den Gängen fünf und sechs am Nachmittag wird da und dort fallen gelassen. Der Sieger-Muni darf sich indes noch mit dem Festsieger zum Schlussakt fotografieren lassen. Doch die Tradition ist allgegenwärtig. Wie hatte es der vor zwei Monaten verstorbene grösste Erzähler der Schweizer Literaturgeschichte, Peter Bichsel, umschrieben? «Schwingen ist ein Familienfest – und wer gerade da ist, gehört immer mit zur Familie und zum Fest. Ich durfte es auf dem Weissenstein mehrmals selber erleben: Schwingen ist ein Ritual – ein ritualisierter Friede. Der Handschlag mit diesen grossen Händen ist ein bleibender Wert.»
Viel Nachwuchs vorhanden
Auch das solothurnische kantonale Schwingfest wächst. Nicht nur das Publikum wird immer jünger. 280 Jungschwinger waren allein am Eröffnungstag angemeldet. Am Sonntag bei den»Grossen» landete der Grenchner Lokalmatador Nicolas Caviezel auf Rang 16. Der 22-Jährige konnte sich zwei Siege gutschreiben lassen und holte sich gegen Lenn Gehrig gar «es Zäni». Mit dem erst knapp 19-jährigen Sinisha Lüscher mausert sich ein Solothurner zu einem Publikumsliebling. Der Neuntklassierte half mit, die ganz»Bösen» zu ärgern, ohne selbst zum Dominator zu werden. Vier Kränze resultieren total immerhin für die Solothurner. Festsieger Nick Alpiger kommt aus Lenzburg. Das Grenchner Schwingfest, das auch im Rahmen des 100-Jahr-Jubiläums des Schwingklubs Grenchen stattfand, blieb den Wurzeln treu. Zwischen Sägemehl, Schwinghosen und moderner Eventkultur meisterte es den Spagat zwischen Brauchtum und Zeitgeist.
Ein Brauchtum mit klaren Werten
Der Schwingsport hebt sich als Schweizer Kulturgut bewusst von internationalen Wettkampfarten ab und setzt auf Authentizität. So gibt es keine Sponsorenlogos auf der Wettkampfkleidung der Schwinger, Ehrendamen überreichen die Gaben in traditioneller Tracht, und eine VIP-Lounge braucht es nicht. Die Schwinghose bleibt das unverkennbare Markenzeichen der Sportler. Und Hand aufs Herz: An welchem anderen Sportanlass kann ich sogar mit der Bierflasche in der Hand auf die Haupttribüne, werde dort vom Nachbarn gleich noch von einem «Plättli» mit Wurst und Speck versorgt und stosse am Nachmittag mit Rotwein an? Der Kern ist unverändert geblieben – die Schwinger, der in Grenchen besonders ausgeprägte reichhaltige Gabentempel, die Ehrendamen wie am Sonntag die Stadtmusik und der Stolz auf ein Brauchtum mit klaren Werten. Gleichzeitig erfordert der Zeitgeist Anpassungen. Die zunehmende Medienpräsenz ist ein Schlüsselfaktor. Während vor 40 Jahren Fernsehteams bei Schwingfesten für ganztägige Liveübertragungen undenkbar waren, ist dies heute Normalität. Die Akzeptanz des Schwingsports in der Gesamtbevölkerung ist enorm gestiegen. Die Leute identifizieren sich damit.
Bier und Bratwurst unverzichtbar
Die ursprüngliche Form des Sports, Kampf Mann gegen Mann, wird zunehmend geschätzt. Auch heute gehören Bier und Bratwurst zum Kantonalen. Die Lebensmittelpyramide in dieser Sportart enthält weiterhin viel Fleisch. Indes gehören Plastikbecher und -löffel am kantonalen Schwingfest in Grenchen der Vergangenheit an. Man setzt auf Mehrwegbecher. Ausnahme ist das Bier. Das wird nach wie vor aus der Flasche getrunken und einzigartig in der Sportszene auch auf der Tribüne. Die Schwingergemeinde ist friedfertig und der Umgang untereinander ist respektvoll.